Was passiert, wenn der Seniorchef die Firma offiziell übergibt – aber jeden Tag wiederkommt?

Zwischen Technikliebe und Übergabe – Ein Seniorchef auf dem Weg zum Loslassen
Eine Folge aus der Serie: Spiritualität im Berufsalltag

Wenn Ruhestand nur auf dem Papier existiert

Es kommt häufig vor, dass sich ein Seniorchef nur schwer aus dem Unternehmen zurückzieht – selbst wenn die Nachfolge längst geregelt ist. Oft steckt kein Misstrauen in die nächste Generation dahinter, sondern etwas anderes: Der Beruf war über Jahrzehnte auch das Hobby, der Lebensinhalt. Und plötzlich soll da nichts mehr sein?

So auch in diesem Fall: Die Firma mit rund 4.000 Mitarbeitenden an verschiedenen Standorten war klar übergeben, der Senior offiziell im Ruhestand – und doch jeden Tag in der Technikabteilung. Er lief durch die Räume, sprach mit den Mitarbeitenden, hatte Ideen, stellte Fragen, lies sich Entwicklungen zeigen. Jeder Wunsch der Tochter als Nachfolgerin – etwa, nicht täglich aufzutauchen und die Mitarbeit nicht in ihrer Arbeit zu stören – wurde zwar mit „Ja, klar, du hast recht“ beantwortet, um dann bei nächster Gelegenheit stand er doch wieder im Betrieb.

Alle Fäden aufnehmen – Gespräche mit der Familie

Immer wieder erfuhr die Tochter: Dein Vater ist wieder da. Diese Meldung kam so regelmäßig, dass sich ein Muster zeigte. Die Tochter wusste sich nicht zu helfen – und so kamen wir ins Spiel. Unsere Aufgabe: herausfinden, was in dieser Situation möglich war.
Wir analysierten die Gesamtsituation, indem wir mit allen Familienangehörigen sprachen. Das war auch deshalb wichtig, weil alle in unterschiedlichen Rollen mit der Firma zu tun hatten. Die Schwester der Tochter spielte dabei eine eher untergeordnete Rolle. Sie war sehr loyal zum Vater, und es war denkbar, dass sich ihr Verhalten verändern würde, wenn er selbst sein Verhalten änderte.

So richteten wir den Fokus vor allem auf den Vater und die Mutter. Als völlig zentral stellte sich die Frage heraus: Vertraut er seinen Töchtern – und weiß er, was sie gut können? Wir nahmen uns viel Zeit, ausführlich über die Chefin zu sprechen, schrieben alles auf, wiederholten es immer wieder und ließen es von ihm überprüfen.

Was der Senior wirklich wollte

Nach den Einzelgesprächen mit den Eltern wurde klar: Die Mutter hätte ihn gern mehr zu Hause gehabt. Doch ihn zog es mit Macht immer wieder in die Firma. Auch sie lies sich von Gesprächen im Betrieb anziehen, – und hielt dabei oft ungewollte, die Mitarbeiter von ihrer Arbeit ab.

Wir – Bernhard Fischer und ich – arbeiten in solchen komplexen Situationen oft gemeinsam. Mal braucht es mehr den psychologischen, mal mehr den technischen Ansatz. In diesem Fall pendelte es ständig zwischen Ehethemen, Freizeit und Firmendynamik. Schließlich richteten wir die Aufmerksamkeit ganz gezielt darauf: Was genau macht der Senior in der Firma? Und warum spricht er mit den Leuten – selbst wenn er dadurch Abläufe durcheinanderbringt?

Die Lieblingsgeräte und eine neue Rolle


Dabei stellte sich heraus: Er war extrem technisch orientiert und wollte wissen, was die neuesten Entwicklungen waren – nicht an allen Geräten, sondern an seinen Lieblingsgeräten, die gerade in der Firma weiterentwickelt wurden. Also führten wir zunächst ein, dass er an bestimmten Sitzungen teilnehmen durfte. Nicht, um mitzureden, sondern um informiert zu sein – zum Beispiel bei internen Produktvorstellungen.
Das klingt einfach, war aber mit klaren Auflagen verbunden.

Schon diese Vereinbarung brachte spürbar mehr Ruhe ins System. Er musste nicht mehr alles auf seinem alten Flur erfragen, war weniger unterwegs und zugleich zufriedener.

Zudem erarbeiteten wir gemeinsam mit ihm eine künftige Rolle im Unternehmen: klar umrissen, passend zu seinem inneren Bedürfnis, und so gestaltet, dass sie den Abläufen der Tochter nicht im Weg stehen würde. Da wir bereits mit der Tochter gesprochen hatten, waren wir uns sicher, dass dieser Platz auch ihren Wünschen entsprach.

In diesem Gespräch mit dem Vater fragten wir auch ausdrücklich, ob er mit seiner Entscheidung zufrieden sei, die Firma an seine Tochter zu übergeben – und warum gerade an diese Tochter. Er nannte uns eine lange Liste von Punkten. Wir wollten genau verstehen, was er meinte, schrieben alles präzise auf und prüften mit ihm, ob wir es richtig erfasst hatten. So hätten wir im nächsten Gespräch mit der Tochter alle Gründe genau erläutern können. Dieses Gespräch fand jedoch nicht mehr statt.

Als Corona alles veränderte

Doch bevor wir die nächste Schwester mit dem Vater besprechen und die neue Rolle mit der Tochter abstimmen konnten, kam Corona. Das Ehepaar war sehr ängstlich, der Prozess wurde gestoppt. Mit Beginn der Pandemie veränderte sich das deutlich: Der Senior war nun nur noch selten in der Firma – nicht aus eigener Entscheidung, sondern weil beide sehr vorsichtig waren. Dann erkrankte er, musste operiert werden – und war danach nicht mehr derselbe.

Ein Geschenk für die Tochter


Das gemeinsame Gespräch zwischen Vater und Tochter war bereits terminiert, kam aber wegen seines Gesundheitszustands nicht zustande. Wir warteten zunächst ab, ob der Senior sich erholen und nach Corona seine gewohnten Rundgänge wieder aufnehmen würde. Doch es kam anders: Er war gesundheitlich so beeinträchtigt, dass er kein Interesse mehr an der Firma hatte.

Nach zwei Jahren baten wir die Tochter erneut zu kommen, um den Abschluss zu machen. Wir hatten die Aussagen des Vaters – was er an ihr schätzt – sorgfältig dokumentiert, lasen sie ihr vor und gaben sie ihr mit. Es war ein großes Geschenk für sie und stärkte sie – besonders, weil ihr Vater inzwischen nicht mehr die starke Persönlichkeit von früher war.

Der Abschluss war anders gelaufen, als man es sich ursprünglich vorgestellt hatte. Alle hätten den Senior gerne weiterhin gesund erlebt. Aber so kann das Leben sein – manchmal macht es einen anderen Plan.

Spiritualität heißt auch den Verlauf anzunehmen


Für mich hatte dieser Prozess sehr viel mit Spiritualität zu tun. Wir haben verschiedene Spuren verfolgt und Schritt für Schritt Ordnung in eine empfundene Unordnung gebracht. In diesem Fall gab es äußere Umstände, die stark in den Ablauf eingriffen – auch das gehört für mich zur Spiritualität: anzuerkennen, dass das, was geschieht, Teil des Ganzen ist.

Eine Tochter hat ein Geschenk für ihr Leben erhalten – die wertschätzenden Worte ihres Vaters, die niemand außer ihr kennt. Die andere Schwester hätte vielleicht gern auch solche Worte gehört. Das war in diesem Ablauf nicht machbar, und es tut uns leid. Gleichzeitig zog sie sich, wie erwartet, mehr zurück, als der Vater krank wurde, und kümmerte sich um ihn statt um die Firma – was sich für den Gesamtprozess sehr positiv auswirkte.

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Spiritualität im Berufsalltag – klar, spürbar, wirksam: Dieser Artikel ist Teil unserer Reihe und führt dich zur inhaltlichen Grundlage, die viele Beiträge verbindet. Erfahre hier, was Spiritualität im beruflichen Kontext für mich bedeutet – und wie sie wirkt.
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Andrea Sam, Kommunikationsberaterin und Coach – für gelingende Gespräche, klare Führung und persönliche Entwicklung.

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