Selbstbestimmt leben – ein Ideal zwischen Anspruch und Anpassung

Dieser Artikel ist mein Beitrag zur Blogparade von Sandra Hoppenz:
„Was bedeutet für mich Selbstbestimmung?“

Ihre Frage hat mich sofort angesprochen – und dabei ging es mir nicht nur um persönliche Freiheit.
Sondern um Prägungen, Systeme und die vielen stillen Regeln, die uns lenken, lange bevor wir das Wort Selbstbestimmung überhaupt aussprechen können.

Ich teile hier meine Sicht – als Kommunikationsberaterin, als Beobachterin, als Mensch.
Und ich lade Dich ein, mit mir zu reflektieren:
Wie viel von dem, was wir „wollen“, ist wirklich unser eigener Wunsch? Selbstbestimmung – ein Wort, das wir alle zu kennen glauben.
„Selbst bestimmen“ – klingt einfach. Aber wer oder was ist eigentlich dieses „Selbst“, das da bestimmen soll?

Kindliche Selbstbestimmung – oder: Die Waschmaschine als Welt

Kleine Kinder sagen gern „Ich!“ oder „selber machen!“. Es klingt nach Selbstbestimmung. Und ja – irgendwie ist es das. Aber: Ist das, was das Kind da tun will, wirklich frei gewählt?

Ich habe mich lange mit André Stern beschäftigt. Er war nie in der Schule, durfte lernen, was ihn interessierte – und das mit voller Unterstützung seiner Familie. Eine Szene hat sich mir besonders eingeprägt: Sein kleiner Sohn Antonin saß stundenlang vor der Waschmaschine, fasziniert vom Lauf der Trommel. Und er durfte das. Niemand sagte: „Jetzt reicht’s aber, komm, wir müssen los.“
Ich sprach damals mit Müttern aus meinem Umfeld. Viele sagten: „Das geht bei uns nicht. Wir haben keine Zeit dafür.“ Oder: „Ein Kind muss doch was Sinnvolles machen.“
Aber was wäre sinnvoller als eine echte, eigene Faszination?

Ich glaube: Selbstbestimmung beginnt genau da – wo ein Impuls aus dem Inneren ernst genommen wird.

Schule: Konzentration, aber nicht auf das Eigene

Gerald Hüther hat mal ein Buch geschrieben mit dem provokanten Titel: Jedes Kind ist hochbegabt. Ich habe viel darüber nachgedacht. Was wäre, wenn wirklich jedes Kind das Potenzial hätte, in einem Bereich herauszuragen – wenn man es nur ließe?

Doch was passiert stattdessen?
Kinder kommen mit fünf oder sechs in die Schule – in einem Alter, in dem Bewegungsdrang, Entdeckerfreude und sinnliche Wahrnehmung dominieren. Und was lernen sie dort ab Tag eins?

Still sitzen.
Aufpassen.
Sich konzentrieren – aber nicht auf den Käfer am Fenster, sondern auf das, was der Lehrer vorgibt.

Ist das Selbstbestimmung? Nein. Es ist gelenkte Aufmerksamkeit.
Und selbst am Nachmittag, wenn Freizeit wäre, stehen schon wieder Wahlpflichtprogramme an: musikalische Früherziehung, Sport, „wertvolle“ Beschäftigung.
Da wird dann gefragt: Welches Instrument willst Du lernen? – aber nicht, ob das Kind überhaupt eines lernen möchte.

Ich erinnere mich gut an viele Situationen aus meinem Umfeld – mein Mann war Klavierlehrer, da habe ich einiges mitbekommen:

Ein Kind wollte Schlagzeug lernen. Die Antwort der Eltern: „Nee, da ist zu viel Lärm. Nimm lieber Keyboard – da ist auch ein Schlagzeug drin.“
Oder: Ein anderes Kind wollte gleich mit dem Klavier beginnen. Doch vorher „sollte man besser zwei Jahre Blockflöte spielen“ – das sei pädagogisch sinnvoller.

War das Selbstbestimmung? Oder nur eine gut getarnte Umleitung in die gewünschte Richtung?

Berufswahl – oder: Was die Eltern für richtig halten

Auch später, in der Berufswahl, wiederholt sich dieses Muster.
In meinen Seminaren – besonders im Justizkontext – habe ich oft gefragt: Wie sind Sie eigentlich ans Gericht gekommen? Die häufigste Antwort: „Meine Eltern wollten, dass ich etwas Sicheres mache.“
Oder: „Mein Onkel war auch bei der Justiz.“
Nur selten kam eine Antwort wie: „Das war schon immer mein Wunsch.“

Ein besonders eindrückliches Beispiel:
Eine Lehrerin erzählte mir vom Sohn einer Ärztedynastie. Er war auf der Realschule – die passende Schulform für ihn. Doch die Eltern wollten unbedingt das Gymnasium. Der Druck auf das Kind wurde so groß, dass sie ihm schließlich doch die Gymnasialempfehlung schrieb.
Heute ist er Zahnarzt. Aber ob das sein Weg war? Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht nur die Fachrichtung.

Arbeit: Eigenverantwortung – aber bitte im Rahmen

Auch im Berufsleben ist Selbstbestimmung ein viel beschworenes Ideal.
In Stellenausschreibungen und Leitbildern liest man von Eigenverantwortung, Selbstorganisation, Initiative.
Aber wenn ich genau hinschaue – bei meinen Klient:innen, in Gesprächen, in Organisationsstrukturen –
dann sehe ich vor allem eins: Grenzen.

Hast Du schon mal versucht, bei der Arbeit wirklich selbstbestimmt zu handeln?
Etwas anders zu machen – nicht rebellisch, sondern weil es für Dich und Deine Aufgabe besser passt?

Viele erzählen mir, dass sie dann auf Widerstand stoßen.
„So machen wir das hier nicht.“
„Da müssen wir den Prozess einhalten.“
„Warum hast Du das nicht vorher abgesprochen?“

Ich sage oft: Selbstverantwortung wird gefordert – aber nur, solange sie ins System passt.

Mir ist noch kein angestellter Kunde begegnet, der wirklich frei entscheiden konnte, wie, wann und mit welcher Priorität er arbeitet.
Selbst in modernen Arbeitsmodellen – mit Vertrauensarbeitszeit, New Work, agilem Denken – bleibt oft wenig echter Raum für Selbstbestimmung.
Die Strukturen wirken subtil: Kontrollsoftware, Reaktionszeiten, Teamabsprachen, Verfügbarkeitserwartung.

Kleine Entscheidungen, große Fragen: Ohrlöcher und Elternhäuser

Ich sehe dieses Spannungsfeld überall – auch in scheinbar kleinen Dingen.
Zum Beispiel beim Thema Ohrlöcher. Zwei Mädchen wollten unbedingt welche. Die Mutter war dagegen. Aber der Wunsch der Töchter war stark. Oder besser gesagt: die Meinung, dass Ohrlöcher „dazugehören“.
War das ein selbstbestimmter Wunsch? Oder das Bedürfnis, dazuzugehören?

Ein anderes Beispiel: Eine Klientin überlegt, ob sie das Elternhaus behalten soll. Es ist groß, renovierungsbedürftig, weit entfernt. Die Entscheidung ist schwierig – weil so viele Stimmen in ihr mitreden. Die eigene, die des Partners, die der Kinder. Kann sie überhaupt noch wirklich selbstbestimmt entscheiden?

Gesundheit: Wer weiß, was gut für mich ist?

Auch im Gesundheitsbereich stellt sich die Frage neu:
Was passiert, wenn ich eine andere Meinung habe als mein Arzt?
Was, wenn ich eine andere Therapie will? Oder keine?

Ich denke an den Fall Olivia Pilhar. Ihre Eltern wollten eine alternative Behandlung für ihren Tumor, nach den Ideen von Dr. Hamer. Sie hielten an ihrer Überzeugung fest – und Olivia wurde ihnen zwangsweise weggenommen. Später überlebte sie. Aber die Entscheidung lag nicht bei den Eltern.
War das falsch? War das richtig? Ich kann das nicht bewerten. Aber es war sicher keine Selbstbestimmung.

Oder mein eigenes Erlebnis als Jugendliche: Ich sollte ein Medikament nehmen, tat es nicht, weil ich glaubte, mein Kreislauf würde sich durch Schwimmen erholen. Die Reaktion der Ärztin war heftig – fast beleidigt.
Selbstbestimmung wird oft dort nicht akzeptiert, wo sie vom Standard abweicht.

Selbstbestimmung bis zum Tod – und darüber hinaus?

In den sozialen Medien folge ich einigen Bestattern. Was ich dort über unsere Nach-dem-Tod-Praxis gelernt habe, hat mich erschüttert.
Vieles, was mit dem Körper passiert, geschieht aus gesetzlichen, hygienischen oder organisatorischen Gründen – aber nicht aus Achtung vor dem Willen des Verstorbenen.

Selbst den Tod selbst zu bestimmen – etwa durch Suizid – ist meist keine freie Entscheidung, sondern eine Reaktion auf unerträgliche Enge.
Ich denke an Clemens Arvay. Ein renommierter Biologe, der sich das Leben nahm, nachdem er massivem öffentlichen Druck ausgesetzt war. Er vertrat eine unbequeme Meinung – und wurde öffentlich zerrissen.
War das Selbstbestimmung?

Fazit: Selbstbestimmung – ein Ideal mit vielen Hindernissen

Ich wünsche mir mehr Selbstbestimmung. Für mich, für meine Klient:innen, für die Gesellschaft.
Aber ich weiß auch: Wirkliche Selbstbestimmung ist nicht einfach.
Sie bedeutet, sich durch einen Dschungel an Prägungen, Erwartungen, inneren Stimmen und äußeren Bildern zu kämpfen.

Manchmal gelingt es, einen klaren Moment zu finden: Ja, das ist meins.
Manchmal nicht.

Und manchmal frage ich meine Klient:innen:
„Willst Du das – oder gehört es einfach dazu?“
Denn genau da beginnt Selbstbestimmung:
Im Innehalten. Im Hinterfragen. Im Lauschen auf das eigene, echte „Ich“.

Und doch erlebe ich oft, dass Menschen an genau dieser Stelle still werden.
Weil sie ihr „Ich“ nicht spüren. Nicht finden.
Es ist verschüttet – unter Erwartungen, Rollen, Erfahrungen.
Manchmal kommt dann nur noch ein leiser Satz:
„Ich weiß es nicht.“
Und dahinter liegt oft eine tiefe Traurigkeit.

Aber genau da beginnt auch der Weg:
Nicht mit einer Antwort. Sondern mit der Erlaubnis, wieder zu suchen.

Weitergedacht:
Wie könnte ein wirklich selbstbestimmtes Leben aussehen – jenseits von Schule, Arbeit und Erwartung?
👉 Keine Schule. Kein Chef. Kein Muss. Nur Leben.
Ein Bild von einem Leben, das nicht aus Pflicht entsteht, sondern aus innerem Reichtum.

Deine Meinung ist gefragt

Was bedeutet Selbstbestimmung für Dich?
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Dieser Artikel ist mein Beitrag zur Blogparade von Sandra Hoppenz:
„Was bedeutet für mich Selbstbestimmung?“
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Andrea Sam, Kommunikationsberaterin und Coach – für gelingende Gespräche, klare Führung und persönliche Entwicklung.

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