Manche Erfahrungen bleiben. Auch wenn sie Jahrzehnte zurückliegen. So wie diese beiden Begegnungen mit Vorgesetzten während meiner Ausbildung zur Krankenschwester. Zwei Frauen, zwei völlig unterschiedliche Arten, mit Verantwortung und Macht umzugehen – und zwei Situationen, die mich bis heute begleiten.
Die eine: Abwertung unter dem Deckmantel der Führung
Stöhnen, steuern, abwerten – Die Stationsleitung, die mich klein machte
Die erste war Stationsschwester. Sie saß meistens an ihrem Schreibtisch, überblickte alles, regelte die Abläufe – soweit so normal. Aber sie tat es mit einer Dauerschwere. Alles war anstrengend, zu viel, belastend. Ihre Anweisungen kamen gestöhnt, als würde die Welt auf ihren Schultern ruhen. Kommunikation? Eine Einbahnstraße. Sie sprach mit den Ärzten, mit uns eher nicht. Es wurde gesteuert, nicht geführt.
Ein harmloser Satz, der zum Makel wurde
Eines Morgens, in der Übergabe, zählte sie wie gewohnt auf, was heute alles anstand. Ich sagte – wohlwollend gemeint – etwas wie: „Das klingt heute nicht nach so viel.“
Was dann kam, war ein Monolog. Ich hätte keine Ahnung, würde die Situation völlig falsch einschätzen, das sei ganz und gar nicht wenig, und so weiter. Ich war fassungslos – und verunsichert.
Zwei Monate später bekam ich mein Zeugnis. Darin stand, ich könne Situationen nicht realistisch einschätzen und müsse lernen, genauer zu arbeiten. Alles nur, weil ich eine Einschätzung gewagt hatte. Diese eine Äußerung war zum Makel geworden. Ich war 18.
Die andere: Vertrauen statt Misstrauen
Ein Gespräch, das mein Herz rasen ließ – und dann alles veränderte
Wenig später war ich auf der Kinderstation eingesetzt. Dort war das Klima ganz anders. Nach etwa einem Monat bat mich die Stationsleitung zum Gespräch. Mein Herz raste. Ich durchlief innerlich alle erdenklichen Fehlerquellen. Was hatte ich übersehen? Was falsch gemacht?
Dann sagte sie: „Ich möchte Ihnen sagen, dass Sie das hervorragend machen. Ich bin sehr zufrieden. Sie arbeiten zuverlässig, ich kann mich auf Sie verlassen.“
Vertrauen wirkt – und bleibt
Ich war sprachlos. Sie fuhr fort: „Deshalb dürfen Sie ein Kind im Einzelzimmer alleine betreuen. Wir trauen Ihnen das zu.“
Ich fragte nach, warum nicht auch meine Kollegin, die viel präsenter und selbstbewusster wirkte. Die Antwort war klar: „Sie entscheidet oft selbst, was sie tun will – und vergisst Dinge. Deshalb ist sie in einem Mehrbettzimmer, da fällt mehr auf. Bei Ihnen wissen wir: Wenn Sie etwas übernehmen, machen Sie es auch.“
Ich war geplättet. Und berührt.
Was diese Erfahrungen mit meiner Arbeit heute zu tun haben
Beide Erlebnisse haben mich geprägt. Das erste negativ: Ich hatte das Gefühl, nie mehr Fuß zu fassen. Eine harmlose Bemerkung wurde zur „Charakterfrage“. Ich lernte: Eine schlechte Führungskraft kann einem Azubi das Gefühl geben, wertlos zu sein. Das sitzt tief.
Das zweite positiv – auch wenn ich vorher durch die Hölle ging. Ich lernte: Selbst ein gutes Gespräch kann Stress auslösen, wenn man nur schlechte Erfahrungen kennt. Und: Vertrauen wirkt. Es stärkt. Es bleibt.
Heute höre ich solche Geschichten von beiden Seiten
Heute, viele Jahre später, arbeite ich als Beraterin mit Menschen in Führungspositionen. Und ich höre oft Geschichten über ihre Vorgesetzten – aus allen Perspektiven. Von denen, die führen, und von denen, die geführt werden. Und immer wieder staune ich, wie groß die Diskrepanz ist: Viele Führungskräfte halten sich für sehr reflektiert – und merken nicht, wie sie auf andere wirken.
Führen oder Steuern? Der feine, aber entscheidende Unterschied
Vielleicht bin ich deshalb so wach für Zwischentöne. Vielleicht habe ich deshalb diesen inneren Sensor, wann Führung stärkt – und wann sie lähmt. Es ist viel einfacher, Menschen zu steuern, als sie wirklich zu führen. Aber Letzteres macht den Unterschied.
Und ja, Schwester Anneliese – das war ihr echter Name – hat mich genau das gelehrt. Unfreiwillig.
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Andrea Sam, Kommunikationsberaterin und Coach – für gelingende Gespräche, klare Führung und persönliche Entwicklung.